Donnerstag, 17. September 2015

Zeitenreise 2015 Tag 8 An der Elbe Auen

+++01.06.2015+++


Das Tröpfeln in der Nacht hat wieder aufgehört gehabt. Diesmal war es nicht einer der Zeltnachbarn, der sich ins Gebüsch ergossen hat, wie letzte Nacht, sondern es war leichter Regen, der auf mein Zelt fiel. Das wird schon bis zum Morgen wieder getrocknet sein, denke ich und schlafe weiter.
Tatsächlich ist es am Morgen trocken, das Zelt ist wieder abgetrocknet, das Gras nur feucht und die Wege sind schon wieder etwas staubig, als ich zum Waschhaus schlurfe.
Kühl ist es. Ich erledige die Arbeiten, die zur Vorbereitung des Tages notwendig sind und sehe zu, daß ich zurück zum Zelt komme. Heute morgen sind es schon merklich weniger Leute gewesen, die um die Uhrzeit sich waschen wollten. Viele werden wohl auch gestern Nachmittag schon abgereist sein, denn es waren etliche Autos auch aus dem Berliner Umland hier gewesen. Die werden nur zum Wochenende hier gewesen sein. Wie ich zum Zelt zurückkomme, sieht es nach Regen aus. Also, ALARM!, alles schnellstens verpacken und fertig machen, bis der Regen hier ist, vielleicht schaffe ich es noch trocken abzubauen.
Das erweist sich keine Viertelstunde später bereits als frommer Wunsch. Ein Geräusch, als wenn ganz leicht Sand auf das Zeltdach gestreut würde, dann Pnock! Pnock! die ersten dickeren Tropfen. Und ich mache gerade erst die rote Rolle zu. Dann hilft es nichts. Ich hieve die Stiefel von der hinteren in die vordere Apsis und ziehe sie an. Die rote Ortliebrolle und er Tankrucksack stehen schon hinter mir, der Helm liegt bereit, Zelt auf und raus. Die Rockstraps habe ich auch parat. Ich laufe mit meinem Gepäck zu Gesa und schnalle es mit flinken Griffen auf ihr fest. Der Helm landet auf dem Spiegel. Zurück zum Zelt. Nun rasch die Heringe aus dem sandigen Boden gezogen, es regnet noch nicht stark, aber immerhin, die Zelthaut ist schon nass.
Der junge Mann aus Meissen, der das große blaue Zelt neben mir bewohnt, sitzt unter dem Vordach seines Zeltes, die Beine überschlagen, Frühstück neben sich auf dem Tisch und schaut mir wieder teilnahmslos zu. Ich gebe bestes Kino ab. Vermutlich hoher Unterhaltungswert.
Das Innenzelt habe ich schon abgehängt, dann die Außenhülle runtergerissen und zugesehen, daß ich das Innenleben des Zeltes so rasch wie möglich zuammenfalte. Dann die Hülle zusammengelegt, die Stangen, alles in seine Beutel und den ganzen nassen Kram zusammengerollt und in seinen Sack geschoben. Das Groundsheet lege ich als letztes zusammen und packe es in seine Netztasche. Das kommt mir erst mal nicht in den Beutel. Das würde auch gar nicht rutschen. Ich nicke dem teilnahmslosen Nachbarn noch mal zu und binde auch die letzten Teile auf Gesa.
Nun nehme ich die Regenkombi und den Helm und laufe zur Rezeption vor um zu bezahlen. Das war die richtige Entscheidung, denn vorne knäulen sich die Wohnmobile und Wagen. Nach ein paar Minuten Warten komme ich mit Bezahlen an die Reihe. 40,86€ kosten mich die beiden Nächte und das Fahrrad gestern. Der Platzbetreiber drückt mir zum Abschied noch mal die Hand und hofft daß ich wiederkomme und die Dame an der Kasse fragt, wo es denn heute hingeht mit mir. Ich antworte "Hamburg!". "Na, das ist ja nicht so weit weg!" meint sie. Ein Mann, der hinter mir steht, pflichtet lachend bei, "Ja, da vorne gleich an der Ampel links und dann zieht es sich.". Er scheint das mit der Geographie besser verinnerlicht zu haben.
Als ich bezahlt habe, wurschtele ich mich, noch in der Rezeption, in meine Regenkombi hinein. Da hätte ich im engen Zelt keine Chance gehabt. Zu guter Letzt setze ich den Helm auf und wanke ins Freie. Mist, ich hab schon wieder den Plastikseetang zu Hause vergessen!
Aus dem leichten Regen ist mittlerweile ein respektabler Landregen geworden, was das angeht, habe ich also noch Glück im Unglück gehabt, denn jetzt abzubauen, das wäre lange nicht mehr so einfach gewesen.
Bei Gesa angekommen, kontrolliere ich noch mal alles, dann schwinge ich das Bein über die Sitzbank und lasse den Motor an.
Langsam rolle ich durch das Tor und durch den Wald. Der Zeltplatzbetreiber kommt mir mit dem Auto entgegen und winkt freundlich. Er hat Gäste rasch zur Straßenbahn gebracht.
Auf der Visierinnenseite sind Tropfen. Die kommen da hin, weil ich beim Gehen das Visier offen gelassen hatte. Die Leute hatten mich zwar angesehen, als käme ich vom anderen Stern, aber ich habe keinen Schirm dabei, also nehme ich den Helm.
Die Innenstadt umgehe ich, indem ich hinter dem Neuen Palais durch die Wohngebiete fahre und dann bei Bornstedt auf die Bundesstraße 273 in Richtung Autobahn. - Baustelle. Umleitung. Hm. Was soll ich machen, ich füge mich. Autobahn fahren ist mir heute zu blöde. Ich werde allerdings bald mit einer herrlichen kleinen Straße entlohnt, die teils unter Bäumen, teils zwischen Feldern, in Richtung Ketzin führt. Dort ist von Nauen nichts auf den Schildern zu sehen. Im Gegenteil, die Straße führt eigentlich nur wieder zurück zum Start. Blöd. Nachdem ich ein oder zwei Runden durch das kleine Städtchen gedreht habe, finde ich den Abfluss, den ich suche. Es geht in Richtung Wustermark, aber nach ein paar Kilometern kommt eine kleine Kreuzung, da biege ich linkerhand ab und komme auf eine einsame, kleine Straße, die mich im Bogen nach Nauen führt. Wenn ich mir das jetzt so auf der Landkarte ansehe, dann hätte ich es auch einfacher haben können, aber auch schöner? Ich glaub nicht.
Nauen empfängt mich zwar düster, aber immerhin trocken. Auch hier gibt es Baustellen und Umleitungen, aber ich suche erst einmal etwas zum Frühstücken.
In der Innenstadt findet sich nicht wirklich etwas, was mich anlacht. Es gibt auch keinen Rewe oder vergleichbares. Zumindest habe ich keinen gesehen. Also fahre ich zum Bahnhof, denn da soll es zumindest einen Geocache geben. Das hatte ich mir vorher auf der Karte so rausgesucht. Ich parke Gesa und orientiere mich. Der Cache müsste dort drüben versteckt sein. Das Gelände ist weit einsehbar, ich soll, um zum Versteck zu kommen, einen Weg entlanggehen, den ich zwar dem Prinzip nach finde, der aber so nicht mehr wirklich vorhanden ist. Eh ich nun als knallegelbes Michelinmännchen da durchs Gras über die Wiese stapfe, überlege ich es mir lieber anders und beschließe im Kiosk, der hier anscheinend das Empfangsgebäude ersetzt, nach Kaffee und Nahrung zu schauen.
Etwas düstere, abgerissene Gestalten sitzen auf den Bänken des Busbahnhofes davor und es stehen auch ein paar Leute vor dem Kiosk an Tischen. Ich beschließe, erst einmal die Regenkombi auszuziehen, denn die Regenapp auf dem Händi meint, es wäre mit dem Regnen nun vorbei. Wir werden sehen.
Die Regenkombi ist fast trocken, ich stopfe sie aber nicht in den Aufbewahrungssack, sondern klemme sie einfach nur so fest. Dann mache ich mich auf und schaue, was es im Kiosk so gibt. Ich kaufe eine Geflügelrolle, ein Teilchen und einen Kaffee und frage die Frau hinterm Tresen nach dem Weg. Sie erklärt mir kurz, wie ich um die Baustelle herum komme, ich bedanke mich und stelle mich mit meinem Frühstück nach draußen an einen der Tische. Das Teilchen enthält irgendein Kompott, vermutlich Apfelmus, ist aber, wie die Geflügelrolle, durchaus essbar. Der Kaffee ist auch gut, darauf hatte ich gehofft, und schon bald sieht Nauen für mich schon nicht mehr ganz so düster aus.
Nach einem kleinen Umweg um die Baustelle, biege ich auf die Bundesstraße 5 auf. "Ribbeck" steht auf den Wegweisern. "Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland, ein Birnbaum in seinem Garten stand...!" Genau, das ist das Ribbeck. Ein kleines Dorf an der B5, man ist schneller durchgehuscht, als man den Namen lesen kann. Ich biege im Ort ab, Theodor Fontane Straße. Ein Herrenhaus auf der linken Seite. Hier also ist es. In der Schule hat man es auswendig lernen müssen. Irgendwie anders habe ich es mir vorgestellt. Ich kann gar nicht sagen wie genau, nur anders. Ich drehe eine kleine Runde durchs Dorf und bin schnell wieder verschwunden. Expresstourismus.
Die Bundesstraße heißt Hamburger Straße, ich bin richtig. Nach wenigen Kilometern biege ich allerdings ab. Nur schnurgerade Bundesstraße, das ist doch langweilig. Ich komme nach Senzke rein. Hier habe ich mir einen kleinen Weg ausgesucht, ich bin gespannt, ob der fahrbar ist. Müsste er eigentlich. Denn er ist der einzige Weg zum nächsten Dorf. Auch wenn da jetzt steht: "Fahrradstraße". Vermutlich ist mein Tun dennoch illegal, aber ich wäge ab. Wer wird hier schon groß kommen? Also Gas. Im etwas - schneller - als - ein - Fahrrad - Tempo rolle ich aus Senzke hinaus. Kurz hinter dem Ortsausgang kommt mir eine Fahrradfamilie entgegen. Vater mit Sohn voraus. Ich lächele gequält in den Helm. Sie nehmen keine Notiz von mir. Ein gutes Stück dahinter kommt die Mutter angeschnauft, mit voll bepacktem Anhänger am Fahrrad. Klassisches Rollenbild.
Der Weg ist prima ausgebaut und wirklich kaum breiter als ein Fahrradweg. Vermutlich wird er aber auch als landwirtschaftlicher Weg genutzt werden und als Verbindungsweg zum nächsten Dorf. Denn die müssen ja auch irgendwie nach Hause kommen.
So fahre ich durch saftig grüne Felder nach Kriele. Ein kleines, zu dieser Uhrzeit etwas ausgestorben wirkendes Dörfchen. Ich suche den Weg der mich weiterbringt. Auch er ist wieder solch eine Fahrradstraße, same procedure. Hier kommt mir tatsächlich nach ein paar hundert Metern ein Auto entgegen. Aber der Fahrer nimmt auch keinerlei Notiz von mir. Soo verboten kann das alles nicht sein. Bei uns hätten sie sicher schon gemeckert.
Bei einem kleinen Kanal halte ich an und schaue mich etwas um. Wieder ein Auto. Meine Hochrechnung scheint aufzugehen. Auf dieser Straße fahren am Tag zwei Hände voll Radfahrer und ein paar verlorene Autos, die zu den Dörfern gehören. Und noch ein Trecker. Aus. So wird es sein. Wie ich mich wieder auf Gesa schwinge kommt tatsächlich noch eine kleine Gruppe Radfahrer. Auch die nehmen von mir keine Kenntnis. Also, Motor an und weiter.
Beim nächsten Ortsschild stocke ich allerdings.
Ob man hier wohnen möchte? Ich bin mir nicht sicher...
Der Weg nach Stechow ist aber nun wirklich wohl nur noch ein befestigter Feldweg. Obwohl er in meiner Karte als offizielle Straße geführt wird. In Stechow schaue ich mich ein wenig um, es sieht nett aus dort und ich muss ohnehin meine Karte wieder neu zurechtlegen.
Weiter geht es auf der Bundesstraße 188. Auf ihr komme ich nach Rathenow hinein. In Rathenow findet dieses Jahr auch die Bundesgartenschau statt. Erstmals ist nicht eine einzelne Stadt der Veranstaltungsort, sondern eine ganze Region mit den dazugehörenden Städten. Nach Blumenbeeten steht mir heute allerdings nicht der Sinn, ich drehe eine kurze Runde und mache am Bahnhof Halt. 
Der Rest einer Schmalspurbahn nach Nauen. Im Prinzip ist sie den Weg gefahren, den ich gekommen bin.
Dort habe ich einen Informationskiosk entdeckt, bei dem ich mich nach dem Optischen Museum erkundige. Aber das hat heute, es ist Montag, geschlossen. Da hilft auch keine Buga. Rathenow war und ist Standort optischer Betriebe, es gilt als die Wiege der deutschen Optischen Industrie, Emil Busch hat hier Objektive gebaut, unter anderem eines der ersten Zoomobjektive, Brillengläser kommen von hier, aber das Museum muss warten, bis ich irgendwann mal wiederkomme. Ich überquere die Havel und biege in Richtung Steckelsdorf ab.
Je weiter ich nach Norden komme, desto besser wird das Wetter. Wald und Felder begleiten mich, bis ich irgendwann nach Havelberg gelange. Hier scheint sogar zeitweise die Sonne. Ich drehe eine kleine Runde durch die Stadt. Das sieht vielversprechend aus, also suche ich mir einen Parkplatz. Da hatten eben doch zwei Motorräder geparkt, was wäre denn damit. Ich finde dort noch ein Plätzchen für Gesa, nehme das wichtigste mit und begebe mich auf Erkundungstour. Vielleicht gibt es hier ja irgendwo einen Kaffee, oder sowas. Da knurrt nämlich auch was.
Havelberg ist wirklich eine schnuckelige kleine Stadt, mit Fachwerk und vielen alten Häusern. Sie zählt auch zu den Hansestädten, ähnlich wie Hamburg, Lüneburg, oder Köln. Das Norddeutsche ist deutlich zu sehen.
Am Marktplatz finde ich auch tatsächlich eine Bäckerei, die geöffnet hat und die auch ein paar Tischchen mit Stühlen zum Sitzen bietet. Fein. Hier trinke ich einen Kaffee und esse eine Kleinigkeit, bevor ich mich wieder auf den Weg zurück zu Gesa mache. Tankrucksack, Helm, alles andere habe ich bei ihr gelassen und es ist in der Zwischenzeit nichts weg oder dazu gekommen. Auf dem Weg zu Gesa treffe ich die anderen beiden Motorradfahrer, Vater und Sohn. Der Vater hat das Motorradfahren in durchaus fortgeschrittenem Alter wieder angefangen, hat eine Honda NC 750 X und der Sohn eine nagelneue MT 09 Tracer. Die hat er ohne Probefahrt und alles gekauft und ist happy damit. Sie wollen an die Ostsee, eigentlich heute noch, aber das wird wohl nichts werden. Das wäre eine sehr sportliche Aufgabe. Wir unterhalten uns noch kurz, dann brausen sie davon. Wie ich mich auch fertig mache, kommt eine Gruppe Touristen vorbei und eine ältere Dame meint wohlwollend zu mir, ich sei wohl eine Emanze. Das hat noch keiner zu mir gesagt...
Auf einer kleinen Landesstraße verlasse ich Havelberg und biege in Legde Quitzöbel ab in Richtung Elbe. 
Auf immer weniger werdenden Straßen komme ich durch eine wunderbare Landschaft nach Wittenberge. Eine kleine Runde durch die Stadt, dann suche ich mir am Hafen eine Parkmöglichkeit. Wittenberge ist eine etwas trist wirkende Stadt, allerdings mit Charme.
Der Hafen von Wittenberge kommt in einem der Lieder vor, die zum endgültigen Verbot der Leipziger Renft Combo in der Mitte der Siebzigerjahre geführt haben. In der "Rockballade vom kleinen Otto" wird das trostlose Leben des "kleinen Otto" in der DDR beschrieben, der vom "großen Otto in Hamburg an der Reeperbahn" liest, dort hinschreibt und um Devisen bittet. Als das Geld ausbleibt, fährt er nach Wittenberge und springt dort auf einen Elbekahn, mit dem er hofft gen Westen zu gelangen. Er kommt aber nicht in den Westen, sondern nur ins Gefängnis. Als die Strafe verbüßt ist, fährt er in suizidaler Absicht abermals nach Wittenberge und geht dort ins Wasser. "Vielleicht taucht er in Hamburg wieder auf". Dieser Text wurde der Renft Combo als Anleitung zur Republikflucht ausgelegt und kam grad recht um die Band, die schon länger ein Dorn im Auge der Machthaber gewesen war, endgültig zu verbieten.
Davon weiß das junge Pärchen, das kichernd und scherzend auf der Bank da drüben sitzt, sicher nichts, denke ich, mache mich wieder fertig und fahre weiter.
Am Ortsausgang von Wittenberge nutze ich die Gelegenheit zu tanken, denn wer weiß, wann die nächste Zapfsäule kommt. Leider gibt es nur 95 Oktan und ich spüre Gesas Blick in meinem Rücken, als ich zum Bezahlen gehe.
Ich fahre weiter durch eine wunderschöne Elbauenlandschaft und nach ein paar Kilometern gelange ich nach Dömitz. Ich habe Mecklenburg Vorpommern erreicht. Dömitz ist eine kleine Stadt an der Elbe, mit einer alten Festung, in der Fritz Reuter seinerzeit inhaftiert gewesen ist, jener bekannte niederdeutsche Schriftsteller, der mit seinen "Läuschen un Riemels" bekannt geworden ist und seine Haftzeit in Dömitz unter anderem in seinem Werk "Ut mine Festungstid" verarbeitet hat. Begraben liegt er weitab seiner norddeutschen Heimat in Eisenach. Die Eltern meines Urgroßvaters hatten ihn in seiner Neubrandenburger Zeit kennengelernt und zählten zu der Runde, in der Reuter neue Verse und Geschichten vorzutragen pflegte.
Ich parke in der Nähe der Kirche und touristele etwas. Bis nach Dömitz hinein bin ich noch nie gekommen. Auf der anderen Seite der Elbe habe ich schon mal gestanden und herübergeschaut. Das war im Juli 1989. Ich hatte im Landkreis Lüchow Dannenberg zu tun und so stand ich auch irgendwann auf dem Stumpf der alten, im Krieg zerstörten Straßenbrücke. Unser Tun dort fiel auch bald den Grenzsicherungskräften auf der anderen Elbseite auf und so tauchte alsbald ein Trabant - Kübelwagen auf, mit zwei Leutchen drin, die nacheinander ein Riesenfernrohr, ein Riesenobjektiv und einen Telefonhörer aus ihrem Auto zogen. Erst beobachteten sie uns, dann fotografierten sie uns und schließlich machten sie Meldung. Dann warteten sie noch eine Weile und fuhren wieder davon. Ob sie uns doch für harmlos befanden, oder man schon Bescheid wußte - keine Ahnung.
Obwohl im Sommer '89 die Bürger dem Land zwischen Elbe und Oder bereits scharenweise davonliefen und wir Witze machten, von wegen der Letzte macht das Licht aus, hätte sich niemand von uns, die wir damals dort standen, vorstellen könne, daß ein paar Monate später diese Grenze auf einmal nicht mehr da sein würde.
Juli '89. Nichts ist weiter weg als die andere Flußseite.
Jetzt stehe ich in dieser Stadt, die damals unerreichbar gewesen ist und schaue durch das Schaufenster eines ehemaligen Karstadt Kaufhauses in leere Räumlichkeiten. Die Stadt sieht an vielen Stellen noch sehr urtümlich aus, es ist lange nicht alles restauriert, aber es herrscht noch Leben in den kleinen Geschäften rund um die Kirche.
Es hilft nichts, ich muss weiter. Es wird Zeit. Und irgendwann möchte ich auch mal ankommen...
Eines werde ich mir aber nicht nehmen lassen, ich fahre über die neue Dömitzer Brücke. Einmal hin und einmal wieder zurück. Es ist ein ganz unbeschreibliches Gefühl. An die alte Brücke erinnert dabei nichts mehr, die neue ist viel breiter und ich kann auch nicht anhalten um ein Bild zu machen. In voller Fahrt mache ich mit der Linken rasch ein Foto und stopfe dann die Kamera wieder in die obere Tasche vom Tankrucksack.
Ich biege auf die B 195 ein und bin nach kurzer Strecke in Niedersachsen. Das Amt Neuhaus gehört seit 1993 wieder zum Landkreis Lüneburg und zu Niedersachsen.
Die Bundesstraße ist schmal und kurvig und es gibt nicht allzuviel Verkehr. Doch scheint das nicht immer so zu sein, denn an einer Reihe von Bäumen sind orange gestrichene Rollstühle angebracht, als Mahnung an die Verkehrsteilnehmer. Ich nehme mir dieses Beispiel zu Herzen und verhalte mich angemessen. Dennoch überhole ich irgendwann den Bus, den ich schon vor mir hatte, bevor ich zu meinem Schlenker über die neue Dömitzer Brücke abgebogen bin und den ich nun wieder eingeholt habe.
Die Strecke führt durch eine herrliche grüne Marschlandschaft, vorbei an typischen Gehöften, durch kleine Dörfer, sie führt an Sanddünen vorbei, am Wald entlang, macht ein - zwei etwas unerwartete Biegungen und führt mich schließlich nach Boizenburg.
Am Rathaus halte ich kurz an. Ich entschließe mich, es bei etwas Expresstourismus zu belassen und will mich gerade wieder aufs Motorrad schwingen, als ich von einem Ehepaar angesprochen werde. Ob ich heute noch bis Mainz fahren würde. Nein, natürlich nicht! Wir unterhalten uns noch ein paar Takte, er ist dabei der Wortführer, sie hat nichts zu melden und dann trennen sich auch unsere Wege wieder. Ich winke ihnen zu, als ich weiterfahre.
Kurz hinter Boizenburg erreiche ich die ehemalige Grenze zwischen der DDR und der BRD. Auf einem Grünstreifen zwischen den Fahrbahnen steht noch ein kleiner Wachturm. "Checkpoint Harry" heißt der ehemalige Kontrollpunkt "Vier" heute, es gibt eine Gastwirtschaft, aber ich halte nur kurz an um ein Foto zu machen und bin danach auch schon wieder verschwunden.
Lauenburg durchfahre ich ohne Halt, es ist eine recht hübsche Stadt, deren historischer Teil unten an der Elbe wirklich sehenswert ist. Ich komme an Krümmel vorbei und durch Geestacht, Bergedorf ist nicht mehr weit, war ich eben noch in Schleswig Holstein, komme ich nun nach Hamburg.
Vorbei an den Boberger Dünen rolle ich in die Stadt. In Hamm spuckt mich die autobahnähnlich ausgebaute B5 auf der Eiffestraße aus. Neben mir an der Ampel LKW, die hier nicht zimperlich sind und vor mir ein Offenbacher. In der Nordkanalstraße biege ich ab, fahre hoch zum Hauptbahnhof, ich habe keine Lust auf Klostertor, dann die Steinstraße entlang und biege schließlich auf die ehemalige Ost - West Straße ab. Ich muss mich hier etwas rüberkämpfen, denn oben am Millerntor will ich abbiegen auf die Reeperbahn. Hier ist viel Polizei zu sehen, am Spielbudenplatz Mannschaftswagen, ich sehe zu, daß ich weiterkomme. Am Nobistor nach Altona rein, die Königstraße hoch und vor dem alten Theater beim Abendblatthaus dann eine Vollbremsung. Eine Gruppe hirnloser Radfahrer taumelt plötzlich zu mir auf die Straße. Sie schauen mich blöde an, während ich etwas unverständliches in den Helm schimpfe und Gas gebe. Ich habe heute abend keine Lust mehr auf Elbchaussee und schlängele mich auf bekannten Wegen durch die Elbvororte. Die tiefstehende Sonne blendet mich manchmal, wenn sie durch die Bäume strahlt. Hinter der Kronprinzenstraße biege ich auf den Bockhorst ein, hier hat meine Tante gewohnt, drüben der Garten, die Hecke sieht verheerend aus, noch zwei mal Abbiegen und ich stehe vor dem Hotel für die nächsten beiden Nächte. Ich stelle Gesa vor der Tür ab und betrete das Gebäude. Der Mann an der Rezeption hält mich zunächst für einen Handwerker, bis er mich erkennt, "Ach, Sie sind das!". Mein Zimmer wartet in einem Nebengebäude auf mich. Da bin ich noch nie untergebracht gewesen. Ich schwinge mich auf Gesa und wir fahren die paar Meter zurück, bis zu der beschriebenen Einfahrt. Es gibt eine Tiefgarage, also hinein, es sind auch noch Plätze frei, obwohl ich oben auf dem Parkplatz die Autos schon knubbeln. Gesa aufgebockt, abgeladen, alles Gepäck umgehängt, und gepackt und rauf ins Zimmer. Tür zu, da bin ich.
Nachdem ich meine Sachen im Schrank verteilt und mich umgezogen habe, suche ich mir rasch mein Schreibzeug zusammen und mache mich auf den Weg ins Restaurant, denn ich habe jetzt wirklich Hunger.
Es ist nicht viel los im Restaurant, aber der Fernseher läuft, Fußball. Der HSV hat irgendein wichtiges Spiel für den Klassenerhalt, deswegen auch die Polizei auf St. Pauli. Ich suche mir einen Tisch möglichst weit weg vom Fernseher. Hinten in der Ecke sitzt nur noch ein Pärchen und wartet auf sein Essen. Beide vertreiben sich die Zeit damit, ausgiebig und mit Lautstärke auf Spanisch zu telefonieren. Sie hört auch beim Essen nicht damit auf. Ich bewundere das, wie Leute es hinbekommen, sich das Smartphone an die Backe zu drücken und gleichzeitig das Essen zu schneiden und zu vertilgen. Und dabei nicht aufhören zu reden. Das könnte ich nicht.
Ich bestelle ein Schnitzel und liege damit absolut richtig. Danach hatte es mir ordentlich verlangt. Das Schnitzel schnupfe ich, wie Rossi die Zwischengerade, das Pils und eine Apfelschorle löschen den Durst.
Nachdem ich meine Notizen vom Tage zu Papier gebracht habe, sehe ich zu, daß ich in mein Bett komme, der Tag war nicht ganz ohne und ich will morgen nicht zu lange rumtrödeln.

Das war eine ganz anständige Etappe. 369km bin ich unterwegs gewesen. Soviel zu "Das ist ja nicht weit...!" Ich bin bei Regen in Potsdam losgefahren und bei Sonne in Hamburg gelandet. Dazwischen war viel Wind, aber auch eine Unmenge an tollen Eindrücken. Ich bin wieder in Städten gewesen, in die ich sicher noch einmal zurückkommen werde. Und ich habe wieder diese Freiheit genossen. Ihr wisst schon welche ich meine!



6 Kommentare:

  1. Antworten
    1. Ja...? Wenn ich da so im Helmtauchermodus durch die Gegend stapfe und Leute erschrecke, wie seinerzeit in Leutesdorf am Rhein, als ich vollgepackt schnaufend und triefend das Treppenhaus erklomm und eine Gruppe fein rausgeputzter Teenager mich anschaute, als wäre ich gerade mit der Nautilus gestrandet, dann könnte ich doch den Eindruck etwas untermalen, indem ich mich mit etwas Seetang aus Plastik behänge. Das wäre sicher *die* Schau! Man (frau) muss ja schließlich was tun für ihr Image!
      :)

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  2. So ein Pech, dass du es nicht mehr vorm Regen geschafft hast, das Zelt abzubauen. Die Situation ist mir so vertraut und man wird beim Zähneputzen schon immer schneller, weil man keine Zeit vertrödeln will.
    Havelberg? Ja, die Stadt ist schön. Es gibt einen Campingplatz auf der Spülinsel vor der Altstadt, an den ich aber keine guten Erinnerungen habe.
    Eine schöne Reisestory ist das und über die Qualität deiner Fotos bin ich jedesmal wieder erstaunt und ein klein wenig neidisch.
    Liebe Grüße
    Svenja

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    1. Da wird auch aus mir auf einmal ein Wirbelwind. Selbst am frühen Morgen, wenn man eigentlich es noch ruhiger angehen lassen möchte. Beim Zelt abbauen musste ich einen kurzen Moment innehalten und überlegen wie ich es anstelle. Dann ging es aber alles ganz flott.
      Von Havelberg habe ich, glaube ich, noch nicht alles gesehen. Da werde ich sicher auch noch mal hinfahren. Dein Erlebnis mit dem Campingplatz dort habe ich gelesen. An Deine Tschechienreise musste ich jetzt beim Schreiben ein paar Mal denken. Ich war ja auch in Dömitz und in Wettin gewesen.
      Die Schwarzweißbilder zum Beispiel sind alle mit dem Normalobjektiv gemacht, also mit dem 50er. Da bin ich manchmal selbst erstaunt, was an verschiedenen Sachen aus dieser Linse kommt. Es hat schon etwas magisches.
      Ich danke Dir auf jeden Fall!

      Viele liebe Grüße,
      Minya

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  3. Ach je, so viele Informationen auf einen Haufen. Das hätte ja für mindestens drei Postings gereicht. Den Herrn von Ribbeck musste ich auch noch lernen...

    Beim Ort Kotzen musste ich prompt an Deinen Zeltnachbarn denken, der sich im Busch "ergossen" hatte.

    Aber eine Solo-Mopped-Fahrerin als "Emanze" zu betiteln... da ist jemand aber mental gleich zwei Jahrhunderte zurück... (ich bin übrigens gestern als space woman tituliert worden...)

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  4. Also "Space Woman" finde ich auch nicht schlecht!
    Wir sind halt doch immer noch nicht ganz gewöhnlich für die anderen Leute. :)

    Ich hatte auch bei der Planung mal kurz in Erwägung gezogen eventuell zwei Tage aus dieser Etappe zu machen. Ich hab aber letztlich dann anderen Dingen den Vortritt gegeben.

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