Donnerstag, 28. April 2016

Zurück in der Zeit. Historisches.

In meiner Familie bin ich nicht die erste, die ein Motorrad besitzt. Freilich bin ich die erste Frau in meiner Familie, die solch ein Fahrzeug ihr Eigen nennt. Mein Urgroßvater hat bereits im Jahre 1908 ein Motorrad besessen. Nicht nur das, er hat bald auch ein Automobil gehabt. Er schreibt darüber in seinen Erinnerungen:

„Um die Entfernung von Mellingstedt zu überbrücken, habe ich ein Motorrad angeschafft, Marke „Magnet“. Ich muß erst etwas darauf üben. Es muß der Motor erst angetreten werden, bis er warm ist. Dann setzt man das Rad von seinem Ständer auf den Boden, wobei er Motor wieder still steht und schiebt es an, bis er wieder anspringt. In dem Augenblick muß man, in der beginnenden Fahrt, sich auf das Rad schwingen. Ich muß mich auch mit dem Mechanismus erst genau vertraut machen, weil er täglich nachgesehen werden muß. Besonders müssen die außerhalb des Motors sich bewegenden Regulierungen der „Abreißzündung“ und der Ventile ständig kontrolliert werden, weil sie der Abnützung durch den Strassenstaub ausgesetzt sind. Ich kann das Rad aber doch bald mit Vorteil benutzen. Mein Unterricht dauert von 8 – 12 und ich kann nun zum Mittagessen zu Hause sein und den Nachmittag für meine Arbeit benutzen. (...)“
Mein Urgroßvater hat zwar viel fotografiert und ich habe eine Unmenge an Glasplatten und Films, aber seinen Fuhrpark hat er leider wohl nicht abgebildet.

Von Mellingstedt im Nordosten Hamburgs, bis nach der Gegend beim Hauptbahnhof, wo er täglich hinfahren muss, sind es etwa 15 – 20 Kilometer. Die Straßen seinerzeit werden für unsere Begriffe abenteuerlichen Charakter gehabt haben. Zumindest außerhalb der eigentlichen Stadt. Dafür war das Verkehrsaufkommen geringer.
Im Jahr darauf hat er dann ein Auto beschafft, da es schwierig ist mit der Schule für die Kinder. Helga, das älteste Kind (meine Großmutter), entwächst der Dorfschule und die Privatschule, die sie nun besucht, um sich auf die höhere Schule vorzubereiten, erweist sich nicht als Glücksgriff. So wird für sie in Hamburg eine Schule gesucht. Der Omnibus, der verkehrt – man darf ihn sich allerdings nicht als einen Bus vorstellen, wie wir heute ihn kennen, sondern es handelt sich um ein pferdebespanntes Etwas – erweist sich als äußerst unzuverlässig und die Alstertalbahn (die heutige S1 nach Poppenbüttel) ist noch nicht gebaut, man hat in der Zwischenzeit das fünfundzwanzigste Jubiläum der Vermessungsarbeiten für ihren Bahndamm gefeiert.
So schreibt er also:

„Ich denke dem Mangel an einer Verbindung dadurch abzuhelfen, daß ich ein Auto anschaffe. Eine Garage ist ja für diesen Fall schon vorhanden. Eine Gelegenheit dazu bietet sich, da mir ein gebrauchter Wagen angeboten wird. Es ist ein „Piccolo“ - Wagen, der allerdings ohne Verdeck ist. Er hat Platz für drei Erwachsene und hat außerdem noch einen Kindersitz. Der Motor besteht aus zwei schräg zur Achse gestellten Cylindern, die frei unter dem hohen Kutschbock liegen. Ich mache mit dem bisherigen Besitzer des Wagens eine Probefahrt und habe von da oben einen prachtvollen Blick in die Landschaft. Die Handhabung des Wagens ist in mancher Weise einfacher als bei meinem Motorrad, da die Einstellung der Gänge, der Benzinzufuhr und der Zündung alle am Steuerrad angebracht sind. Fußhebel sind für den Leerlauf und die Bremse da. Die Sache gefällt mir sehr gut und ich kaufe den Wagen.
Ich fahre einmal mit dem Wagen zu einem „Lotsenabend“ in Wietzels Hotel (an den Landungsbrücken). Als ich spät abends dann zurückfahren will und noch den Schriftsteller Albert Helms, dessen Vorlesung mir auf dem Abend bei (Gustav) Falke so gut gefallen hatte, mit nach seiner in Winterhude gelegenen Wohnung nehmen will, versagt der Motor und ich muß noch in der Nacht die Autowerkstatt von Dello in der Dammtorstraße herausklingeln. (aus den Verkaufsräumen von Dello in der Dammtorstrasse fand übrigens später in den 60er Jahren die Übertragung der NDR Sendung „Die aktuelleSchaubude“ statt) Es zeigt sich, daß die Ventile ausgeschliffen sind. Der Schaden soll allerdings bis zum Morgen behoben werden, aber ich muß mir die Nacht in Hamburg um die Ohren schlagen, wobei mir Helms getreulich Gesellschaft leistet.
Um die Weihnachtszeit fahre ich mit Georgie (meiner Stiefurgroßmutter) zur Stadt und wir machen Weihnachtseinkäufe. Der Wagen ist voll von Paketen. Da kommt ein heftiger Schneesturm. Wir sind bald ganz in eine Schneekruste gehüllt. Die Acetylenlampen gehen aus, weil sie mit Schneemassen bedeckt sind. Ein paar Mal werden wir von Polizisten angerufen, weil ich ohne Licht fahre, aber ich kann mich nicht darum kümmern, weil ich schon zu sehr erfroren bin und ich muß mich fast wundern, daß wir schließlich doch noch nach Mellingstedt hin gelangen.
Einmal fahren wir mit dem Wagen nach Poppenbüttel zum Bäcker, um da eine Torte zu holen. Helga und Kurt müssen bei diesem feierlichen Akt mit dabei sein. Auf dem Rückwege aber gibt es plötzlich einen Ruck. Ich sehe die beiden Vorderräder, das eine rechts, das andere links, abrollen, die Spitze des Wagens stürzt nach unten und schrammt auf dem Strassenpflaster entlang. Es sind beide Vorderachsen gebrochen. Ich muß aus dem nächsten Bauernhause ein Pferd holen und den Wagen, nachdem er auf zwei Tannenstämmen aufgebockt ist, nach Hause schleifen lassen. Ähnliche Pannen, bei denen ich den Wagen weite Strecken schieben muß, passieren noch mehr und es wird klar, daß er für einen täglichen Verkehr für die Schulzwecke, wegen seiner nicht genügenden Zuverlässigkeit, nicht verwendbar ist. Es wird immer deutlicher, daß wir, wenn die Kinder nicht nur in der Dorfschule aufwachsen sollen, in die Stadt ziehen müssen. Dazu kommt, daß mein Motorrad auch schon in allen Teilen so ausgeleiert ist, daß die Reparaturen kein Ende nehmen  (...)“

Das Haus an der Huuskoppel in Mellingstedt wird vermietet und er zieht im Jahre 1910 mit der Familie in die Horner Landstraße nach Hamburg Horn. Sein Motorrad und das Automobil verkauft er an einen Landwirt, der den Hof Treudelberg erworben hat, bzw. an einen Autoschlosser in Bargteheide. Er schließt das Kapitel Automobil damit, daß ihn, durch die beim Verkauf erzielte Summe, der Wagen mit seinem Benzinverbrauch und den vielen Reperaturen, nur 150 Mark gekostet habe. Er hat ihn also offenbar gut verkauft.
Wenn meine Großmutter von dem Motorrad meines Urgroßvaters erzählt hat, dann habe ich mir als Kind freilich nicht ein Motorrad vorgestellt, wie es in den ersten Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts gefahren ist. Sondern so, wie ich Motorräder kannte, nur etwas älter halt, mit rundem Tank und so. Wie das tatsächlich ausgesehen haben mag, davon habe ich mir erst viel später eine Vorstellung gemacht. So habe ich im vergangenen Jahr dann tatsächlich live und in Farbe Motorräder aus der Zeit gesehen (klick).
Es gibt so Dinge, da wünschte man sich zuweilen eine Zeitmaschine...

16 Kommentare:

  1. Oh wie toll................. <3

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    1. Nicht wahr? Nur schade, daß ich keine Fotos von ihm von seinem Motorrad habe.

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  2. Das waren noch motorisierte Pionierzeiten. Da hat keiner über falsche Desmotronic oder schwaches ABS gejammert!
    ;)

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    1. Das stimmt. Ich glaube, da fand man es fabelhaft, daß so etwas überhaupt fährt.
      Wenn mein Urgroßvater sehen würde, was wir heute fahren...

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  3. Das Mopedfahren liegt Dir also in den Genen. Schöne Zeitreise, Minya.

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    1. Ja, und er ist auch erst dazu gekommen, als er nicht mehr so ganz jung war. Damals war er 38.

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  4. Toller Bericht. Schön, dass es in Deiner Familie solche Zeitzeugnisse gibt.

    Grüße.

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    1. Ja, das stimmt. Vor ein paar Jahren habe ich mit meinem Vater diese ganzen Berichte von meinem Urgroßvater abgetippt und wir haben die Glasplatten digitalisiert. Da war es zum Teil recht unheimlich, weil man auf einmal Bilder zu den Ereignissen in der Hand hielt. Das hat einen dann noch mehr eingesogen.

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  5. Ohh, du hast schriftliche Erinnerungen von deinem Großvaterß Wie schön. Bei uns gab es so etwas leider nicht. Aber bei uns in der Familie waren Motorräder auch sehr verbreitet.

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    1. Ja, er hat ein Tagebuch geführt, das er in seinen späten Jahren ausformuliert hat. Meine Großmutter hatte es dann mal abgetippt, mit mehreren Durchschlägen, und da das Durchschlagpapier anfing zu schwächeln, habe ich es mit meinem Vater vor ein paar Jahren abgeschrieben. Das ist ein ganz ungeheurer Schatz!

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  6. Anmachen, warten bis warm, dann anschieben- das stelle man sich heute mal vor. Irre! Vielen Dank für die Beschreibung, die mich auch in der Zeit zurückversetzt hat!

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    1. Nicht wahr? Wieviel einfacher haben wir es da heute, wenn wir den roten, vor ein paar Jahren noch als Damenknöpfchen belächelten, Knopf drücken und damit dutzende von PS erwecken?

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  7. Was eine coole Zeitreise. Klasse, dass du das Tagebuch deines Urgroßvaters hast und noch klasserer (hihi) ist natürlich, dass er eines geschrieben hat.

    Ich habe ein schriftliches Dokument meines Großvaters. Wohl seine Arbeit zum Dr. Dipl. Ing. und nicht halb so erquicklich, wie das TB deines Urgroßvaters. Boah, das würde ich gerne ganz lesen :-)

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    1. Oh ja, da kann ich mich wirklich glücklich schätzen, dass er so ein Tagebuch geführt hat. Es ist unglaublich spannend darin zu lesen, was er da alles beschreibt!
      Wenn es nicht noch einen nicht so angenehmen Teil der Familie gäbe, hätte ich es sicher schon lange mal irgendwie herausgegeben.

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  8. Es war toll, deinen Bericht aus der Vergangenheit zu lesen. Ich selbst habe ein paar Bilder von meinen Verwandten aus den 30er Jahren, aber ein Tagebuch leider nicht.

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    1. Ja, ich glaube daß ich da etwas besonderes habe. Ich bin meinem Urgroßvater, den ich ja nie kennengelernt habe, auch wirklich dankbar für so ein Zeitzeugnis. Von irgendwelchen anderen Verwandten gibt es so etwas bei mir auch nicht.

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