Donnerstag, 1. September 2016

In Hamburg sagt man Tschüß! - Wieder Richtung Süden.

+++31.05.2016+++


"Klack!" Der zweite Koffer rastet an Gesas Halterung ein. Den Schlüssel rumgedreht und ins Zündschloss gesteckt. Nun nur noch den Helm auf, die Handschuhe an und dann geht es los. Wieder weg von Hamburg. Richtung "Nach Hause". Von zu Hause nach zu Hause. Ich mag diese Abschiede nicht. Es liegt dann immer eine unbestimmte Zeit vor mir, in der ich nicht weiß, wann ich zurückkehren werde. Zurückkehren. Wohin eigentlich? Meine Familie ist ziemlich umfassend auf Friedhöfe in der Region verteilt.
Aber halt! Da sind Freunde, sehr liebe Menschen, die auf mich hier warten. Polly ist so ein Mensch. Und Svenja. Corinna und Heide. Leonhardt und Olga in Maschen. Die mich eigentlich jetzt brauchen würden, aber das weiß ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Da hinten, ganz klein, steht Gesa. Könnt Ihr sie erkennen?
Ich lasse das Visier einrasten und drücke den Startknopf. "Brmmm!" Gesas Zweizylinder erwacht unter mir. Ich schubse mich mit ihr zurück und dann rollen wir schon über das buckelige Pflaster aus der Hofeinfahrt. Tschüß, Mellingburger Schleuse!
Ich rolle hinunter in die Stadt. In Eppendorf ist mal wieder sonstwas los, ich drifte etwas von meinem Weg ab, an der Tarpenbekstraße ist Chaos, aber habe bald drauf einen guten Weg gefunden und steuere auf den Klosterstern zu. Hier hemmt auch eine Baustelle meinen Weg, aber ich komme trotzdem auf die richtige Abzweigung in Richtung Dammtor. Das geht aber alles von meiner Frühstückszeit ab. Ich habe einen Termin in der Stadt und möchte vorher noch etwas im Magen haben. Ich lasse mich mit Gesa in Richtung Kaufmannshaus treiben und stelle sie dort ab. Hier finde ich im Umkreis von hundert Metern auf jeden Fall etwas, wo ich ein Frühstück serviert bekomme. In der Hanseviertelpassage gibt es, was ich suche. Aber erst, nachdem ich sehen musste, daß es meinen geliebten Schiffsbücherladen nicht mehr gibt. Schon wieder was weg!
Das Frühstück ist nicht zu teuer, dennoch reichhaltig und sehr schmackhaft. Beim servierten Obst bin ich zunächst etwas skeptisch, aber ich vetrage es dennoch gut.
Während ich dort so sitze, beobachte ich einen etwas linkischen jungen Mann, der sich im vorderen Bereich niederlässt und ein Wasser bestellt. Als er bezahlt hat und verschwunden ist, liegt seine Jacke immer noch dort. Vergessen. Die Leute vom Café nehmen sie in Obhut. Als ich dann nach einer Weile gehe, sehe ich ihn auf dem Rondell sitzen, wo früher das Geländer war und man ins Untergeschoss schauen konnte. Ich spreche ihn an, sage ihm, daß seine Jacke noch im Café liegt und lasse ihn verdutzt zurück.
Mein Termin ist wie immer nur Minutensache und so bin ich bald bei Gesa zurück, die auch artig auf mich gewartet hat.
Wir schlängeln uns am Hafenrand entlang und rollen auf der Amsinckstraße schließlich aus der Stadt. Wieder wälzt sich die Elbe unter uns entlang, die stählernden Streben der Norderelbbrücke fliegen im Augenwinkel an uns vorbei, ich setze den Blinker auf die Wilhelmsburger Reichststrasse. Harburg, die Phoenix grüßt von rechts. Hier riecht es schon lange nicht mehr nach verbranntem Gummi. Ein unbedingtes Merkzeichen, wenn man aus dem Zug stieg. Am Bahnhof Harburg bin ich oft ausgestiegen, um dann mit dem Postbus, der in der Tür noch den Briefschlitz hatte, nach Hittfeld hinauszurumpeln. Manchmal sind meine Mutter und ich aber auch mit dem Spielbankbus vom ZOB aus nach Hittfeld gefahren. Ich sehe mich noch abends mit ihr dort, unweit des Hauptbahnhofes, stehen und die gelberleuchteten Straßenbahnen an mir vorbeiheulen.
Es dauert nicht lange, dann stehe ich wieder in Hittfeld an der Aral Tankstelle und lasse die Luft aus Gesas Tank. Ich werde gleich noch mal auf dem Friedhof schauen, ob ich dort jemanden antreffe, dem ich mein Leid klagen kann.
Bei dem kleinen Schuppen, den die Leute vom Friedhof für ihre Geräte brauchen, treffe ich auch zwei Männer an. Einer ist der etwas ältere mit den roten Bäckchen, der damals die Urne für meinen Vater entgegengenommen hatte, die fälschlicherweise nicht mit seiner Aschenkapsel gereist war und der später noch in einem sagenhaft verknitterten Anzug bei der Beerdigung eine tragende Rolle einnahm, der andere ist fast so groß wie ich, etwas älter als ich und sieht mich schon von weitem den Weg bestimmten Schrittes entlangkommen. "Bitte nich hauen!" ruft er mir schon zu, als ich noch ein paar Meter entfernt bin und dukt sich schützend hinter seinen Arm. Ich erkläre was passiert ist und sie machen beide einen betroffenen Eindruck. Ja, so etwas käme immer wieder vor. Aber Buchstaben? Figuren, ja, das gäbe es häufiger. Der Große geht mit mir nach vorne zu dem Raum, wo sie ihr kleines Büro haben und gibt mir einen Zettel mit Steinmetzfirmen, die hier öfter zu tun haben. Mehr kann er nicht tun. Ich bedanke mich, gehe noch mal am Grab vorbei und kehre dann zu Gesa zurück. Es ist ein unbefriedigender Aufbruch. Ich biege links ab und halte auf Jesteburg zu. Die Sonne ist wieder herausgekommen und es ist in der Zwischenzeit schon wärmer geworden. Nun ist es allerdings auch bereits halb zwei. Ich fahre unter Bäumen entlang, Schatten liegt auf der Straße, die Felder sind noch grün, so früh im Sommer. Meine Gedanken hängen immer noch auf dem Friedhof fest und so kann ich die schöne Fahrt nicht so recht genießen. 
In Jesteburg erwarten mich Baustellen, aber ich komme dennoch gut durch. Es ist vergleichsweise wenig los und ich eile mit Gesa flott über die Heide. 
Ein, zwei Mal hemmen noch Baustellen unseren Lauf, dann sind wir auch schon hinter dem Truppenübungsplatz in Munster und halten auf Bergen zu. Dieses Bergen hat einen faden Beigeschmack im Namen. Belsen.
Hier, inmitten der schönsten Landschaft, haben die Nazis eines ihrer Läger eingerichtet gehabt. Zunächst ein Kriegsgefangenenlager und "Lazarett" in Baracken, die vorher zum Bau des Truppenübungsplatzes genutzt wurden, war es später, gegen Kriegsende ein Konzentrationslager, das mit zu den großen Lägern gehört hatte. Hierher kamen gegen Kriegsende die Transporte von Lägern, die nahe der Front gelegen hatten. Hierher schickten nach dem Kriegsende die englischen Befreier die HJ Führer der Umgebung, daß sie die ehemaligen Gefangenen pflegten. Mein Vater war als knapp fünfzehnjähriger Fähnleinführer dort mit dabei. Er hat nie von dieser Zeit erzählt.
Mir fehlt heute die Zeit, aber auch die Muße, mich mit der Gedenkstätte zu befassen. Ich vertage das hiermit. Stattdessen halte ich auf Celle zu. Schnurgerade verläuft die B3 durchs flache Land. Meine Gedanken können ein wenig spazierenfahren. 
Erst in Celle selbst wird der Geist wieder gefordert. Es gibt wieder Baustellen und etwas Verkehr. Aber es dauert auch nicht allzulange, dann sind wir wieder auf freier Strecke und ich überlege mir, ob nicht ein Kaffee, und/oder ein paar Erdbeeren jetzt etwas Feines sein könnte. 
Meine Suche ist aber etwas halbherzig und so mache ich erst vor einem Einkaufszentrum in Burgdorf den Motor aus. Wie ich gerade den Helm abstreife, klingelt mein Telefon. Der Friedhofsgärtner aus Bahrenfeld. Ich war gerade so schön wieder zu Laune gekommen. Außer ein wenig Gestammel und Betroffenheitsblabla bringt er nichts zustande. Ich stopfe das Händi wieder in die Jackentasche und stapfe in den Supermarkt. Die haben hier ein Eiscafé! Klasse, das ist jetzt meines. Ein wenig bin ich verschwitzt, die Temperaturen haben die dreißig Grad erreicht. Ich suche mir einen Platz im kühlen Innenraum und ordere Kaffee und Eis. Getrennt von einander. Heiß und kalt. Das ist jetzt genau das, was ich brauche.
Nach der kurzen Pause geht es sichtlich erfrischt weiter. Von jetzt an heißt es, Hannover auf dem bestmöglichen Wege zu umgehen. Ich folge der B443 geradewegs in Richtung Lehrte. Durch die Stadt geht es etwas zäh, der Berufsverkehr naht. 
Als ich auf dem halben Weg nach Sehnde anhalte, um ein Foto zu machen, klingelt schon wieder das Telefon. Bis ich die Jacke aufgenestelt habe, und den Helm vom Kopf, hat es auch schon wieder aufgehört. Nanu? Hamburger Nummer? Nochmal der Gärtner? Ich stutze. Nein, es ist eine Anwältin, die im Namen ihrer Klientin eine Lizenzfreigabe für Bilder haben möchte, die meine Tante gemacht hatte. Ich stehe also am Rande einer Bundesstraße, mitten im Nichts und verhandele am Telefon mit einer Anwältin über vierzig Jahre alte Fotografien. Ich komme mir irgendwie doof vor.
Vor Laatzen erwischt mich der Berufsverkehr. Wir stehen vor einer Ampel an der Autobahnauffahrt. Danach geht es etwas flüssiger, bis ich schließlich wieder auf der B3 bin und fast alleine meine Spur ziehe.
Hier in der Gegend bin ich schon ein paar Mal gewesen, in Alfeld gab es einen Laden, der mein Frühstücksgeschirr als Generalvertreter noch hatte. Doch irgendwann hat auch dieser Laden auf einmal die "Räumungsverkauf" Schilder im Fenster gehabt und Alfeld lebt seitdem ohne meinen Besuch.
So spule ich in der abendlichen Sonne die Kilometer dahin, bis auf den Schildern der Name "Einbeck" erscheint. Ich beschließe, schon mal eine Vorbesichtigung für morgen zu unternehmen und steurere in die Stadt hinein. Mein Ziel ist leicht zu finden, also mache ich kehrt und suche mein Hotel. Es liegt in Lüthorst, ein paar Kilometer von Einbeck entfernt.
Es sind kleine, typische Dörfer, durch die ich fahre und auch Lüthorst präsentiert sich als Ort voller Fachwerkbauten, kleiner und größerer Höfe und einer Straße, die sich hindurchschlängelt. Ich muss einmal abbiegen und folge einer kleinen Wohnstraße, bis fast ans Ortsende. Dort liegt mein Hotel. Ich stelle mit Gesa das einzige Fahrzeug dar, das unter den neugierigen Blicken der Nachbarn, die einen vierzigsten Geburtstag auf der Straße feiern, vor dem Hotel einparkt. Die Gastwirtschaft sieht seltsam dunkel aus. Hoffentlich ist jemand da!
Ich lasse alles bei Gesa und erkunde die Lage. Die Tür ist offen. Schon mal was. Hinter der Theke wartet ein Mann auf mich. Er begrüßt mich freundlich, händigt mir meinen Zimmerschlüssel aus und verkündet, daß heute Ruhetag sei. Misto. Nix zu Essen! Ich beschaue das Zimmer, trage also die Koffer hinein und den Tankrucksack und frage den Mann noch mal, wo ich denn nun noch etwas zu Essen herbekomme. "Hm, da müssen sie bis Einbeck fahren, da werden sie wohl noch Glück haben. Sie sollten aber nicht zu lange warten. Zum Einen machen die da früh Schluss, zum Anderen sieht es nach Regen aus." Also mache ich mich nur rasch frisch und sehe dann zu, daß ich nach Einbeck zurück gelange.
Die Stadt empfängt mich als alte, sehr schöne, gut erhaltene Fachwerkstadt. Ich bin etwas überrascht. Meine andere Kamera habe ich im Hotel gelassen. Also muss die kleine Panasonic ausreichen. 







Ich übe mich kurz in etwas Expresstourismus und finde dann ein Restaurant, das mir vertrauenswürdig aussieht. Hier wird Steak gereicht.
Ich setze mich hinein, um ein wenig Ruhe zu haben, aber bald kommen ein paar österreichische Bengels und bevölkern lautstark einen Tisch in meiner Nähe. Von diesen Jungs wimmelt die ganze Stadt. Ich esse mein Essen, trinke mein alkoholfreies Hefeweizen und sehe zu, daß ich bezahlt bekomme.
Der Hotelwirt hatte mir einen Platz hinter dem Haus gezeigt, wo ich Gesa im Trockenen aufstellen könnte, den steuere ich nun an. Ich kann sie unter einem Vordach aufstellen, hinter der Küche. Dort stört sie niemanden und wird nicht naß, wenn es heute Nacht regnet.
Es ist noch hell draußen und der angekündigte Regen läßt auch noch auf sich warten, also ziehe ich mich rasch um und mache mich mit der Kamera noch mal auf, das Dorf zu erkunden.


Wilhelm Busch ist hier allgegenwärtig. Nahe der Kirche erfahre ich auf einer Tafel auch, warum das so ist. Er hat hier bei einem Verwandten einige Zeit seines Lebens verbracht. Hier hat er auch einige seiner bekannten Werke verfasst. Ich schleiche im Dämmerlicht durch die Gassen und versuche mir vorzustellen, wie es damals wohl ausgesehen haben mag. 






Schließlich wird es ganz dunkel, kein Büchsenlicht mehr und ich kehre zurück zu meiner Unterkunft. Dort wartet ja auch noch mein kleines Büchlein auf mich, in dem ich die Erlebnisse vom Tage aufschreibe.
Allzulange wird dieser Abend dann nicht mehr dauern, bis ich das Licht ausknipse und mich schaflos in Morpheus' Arme begebe.


Das waren heute 270 km Wegs. Viel gerade Strecke, aber schöne Landschaft.

Heute bin ich noch mal ohne Regen davongekommen. Drückt mir die Daumen, daß es so bleibt! Es sah ja zuletzt noch ganz nett aus...