Donnerstag, 5. November 2015

Zeitenreise 2015 Tag 15 Grenzerfahrung

+++08.06.2015+++


Ich habe keine Lust.
Keine Lust aufzustehen, keine Lust mich anzuziehen, keine Lust zu fahren. Am liebsten würde ich mich noch mal rumdrehen. Mich im Kissen verstecken. Aber die Sonne scheint schon durch die Vorhänge, es ist halb acht und ich muss los. Heute Abend werde ich zu Hause sein. Wenn es nach mir ginge, dann würde diese Reise ewig so weitergehen. Fahren, Zelten, Braten. Neues sehen. Und Altes. Aber doch nicht schon nach Hause.
Schweren Herzens wuchte ich mich dann doch aus dem Bett und schlurfe missmutig ins Bad. Mein Spiegelbild verrät mir meine Laune. Bääh! Es hilft nichts.
Kurze Zeit später sitze ich dann doch schon angezogen und so gut wie fertig unten im Frühstücksraum und schaue mich auf dem Tisch vor mir um. Es gibt alles. Drei Brötchen warten auf mich, Saft, ein Ei, Auflage und Kaffee. Das versöhnt mich wieder ein wenig. Von den Leckereien hat keine eine Chance zu entkommen und satt und einigermaßen zufrieden schaue ich aus dem Fenster auf den Wald auf der anderen Seite von der Wiese. Ich raffe mich auf, gehe nach vorne, bezahle die 27 Euro für mein Zimmer und gehe meine Sachen zu holen. Gepackt habe ich schon, alles weitere ist nun nur noch Minutensache.
Als Gesas Motor unter mir bollert, geht es mir schon wieder etwas besser. Die Sonne indes hat einen Schleier bekommen und schickt sich an, ganz hinter Wolken zu verschwinden. Es ist nicht allzu warm heute morgen.
Erst einmal fahre ich in Richtung Witzenhausen. Eine Tankstelle könnte jetzt nicht falsch sein, gestern hatte ich ja nicht zu tanken gebraucht, aber nun ist nicht mehr viel drin. Witzenhausen ist aber, entgegen des Namens gar nicht so witzig. Es gibt viel Verkehr, einige konfuse Autofahrer und vor allem Baustellen. Unter anderem ist die Straße, die ich gleich fahren möchte, gesperrt. Ich irre etwas in der Stadt herum, bis ich eine Tankstelle finde. Dort frage ich auch gleich, wie man von hier wieder wegkommt. Der Tankwart erklärt es mir, ich muss im Prinzip wieder ein Stück zurück und dann auf der Bundesstraße 80 weiter. Na schön. Ich rolle noch einmal durch die Stadt und komme dann auf die besagte Bundesstraße. Nach einem kurzen Stück biege ich dann auf die B27 ab und folge der Werra.
Die Straße verläuft etwas gerader als der Fluß, die meiste Zeit neben einer Eisenbahnlinie her. Das muss die Bahnlinie sein, auf der ich in den Siebzigerjahren ein paar Mal als Kind gefahren bin, als es noch keine Intercity - Züge gab. Ich erinnere mich noch recht plastisch daran, daß ich am Zugfenster gestanden bin und auf die Zonengrenze geschaut habe, die etliche Kilometer lang neben der Strecke verlief. Immer mal wieder kam der Zaun und der braune Erdstreifen näher und immer wieder sprang er einige Meter zurück. Ich versuchte mir vorzustellen, wie es wohl auf der anderen Seite sein würde. Dort sollte auch ein Deutschland sein, das wußte ich, aber diese Abschottung machte mich Gruseln. Zugleich faszinierte mich dieser Anblick. Nun war das alles Geschichte, lange schon, eine ganze Generation ist mittlerweile herangewachsen, die diese Zeit nicht mehr erlebt hat und die heute noch schwerer nachvollziehen kann, was einem damals im Kopf herumgegangen ist.
So unter meinen Gedanken komme ich nach Bad Sooden - Allendorf. Hier bin ich schon mal gewesen, das muss 1986 oder 1987 gewesen sein. Meine Mutter war hier zu einem Klinikaufenthalt und ich hatte sie hier besucht. Wir waren damals auch an der Grenze gewesen. Ich erinnere mich an einen hohen Metallzaun, mit einem Tor drinnen und den schwarzrotgelben Grenzsäulen. Es standen Schilder, die auf die Grenze hinwiesen und auf der anderen Seite war dieser Betonweg und ein junger Mann in Uniform. Der war kaum älter als ich. Wenn überhaupt. Er stand da mit seinem Gewehr und schaute rüber auf die Westseite. Dort waren Spaziergänger unterwegs und betrachteten den "Antifaschistischen Schutzwall". Als Attraktion. Ich war eine von ihnen. Was mag der junge Mann damals gedacht haben?
Ein Wegweiser kommt in mein Blickfeld. Er weist zu einem Grenzmuseum. Sollte das in dem Abschnitt sein, wo wir damals gewesen waren? Ich folge ihm neugierig. Der Weg führt aus Allendorf hinaus und in ein Waldstück hinein. Der Weg ist schmal und windet sich einen Hügel hoch. Auf der rechten Seite eine kleine Gedenkstätte. Sollte es das schon sein? Nein, da ist ein weiterer Wegweiser. Ich biege um die nächste Ecke und mir stockt der Atem. Die Grenze!! Sie ist noch da. Genau wie früher. Ich bin total geflasht. Bald fahre ich in den Graben vor Schreck.
Wer genau hinschaut, entdeckt ein weißes Kreuz. Daß das nicht bloß Deko ist, erfahren wir später noch.
Nach ein paar Metern, die es wieder durch den Wald geht, lichtet es sich und es gibt einen Platz mit einer Halle und einem Parkplatz. Ich fahre auf den Parkplatz. Da steht noch ein Wachturm. Ich kann Fahrzeuge sehen. Es ist glücklicherweise nur das Museum. Ich stelle Gesa vor der Pforte ab, nehme meine Kamera und gehe hinein.
In den Siebzigern und Achtzigern in Aller Munde. Eigentlich ein simples Teil, so eine "Selbstschußanlage"
In den Baracken ist eine Ausstellung aufgebaut. Es sind Tafeln mit Fotos und Lageplänen. Ich kann auf den Bildern Orte von meinem ersten Reisetag entdecken, als ich auch schon mal an der Werra unterwegs war. Mit dem was ich hier sehe, hätte ich das am ersten Tag mit ganz anderen Augen angesehen. In den anderen Baracken sind Modelle, Uniformen aus Ost und West ausgestellt, Originalpläne der Anlagen, und und und. Im Außenbereich stehen Hubschrauber der Volksarmee und des Bundesgrenzschutzes und verschiedene Fahrzeuge.
Wie ein böses Tier. Russischer Hubschrauber
Ich entdecke auch so ein Trabi - Cabriolet, wie ich es damals von der Dömitzer Brücke aus gesehen hatte.

Traurige Relikte aus den frühen 80ern.
Die Guten? Je nach Sichtweise und Richtung der Kompassnadel.
Ich betrachte noch die Exponate in der Halle auf der andern Seite des Parkplatzes und kehre dann zurück zu Gesa. Das Gesehene beschäftigt mich. Mit am meisten betrübt mich, was ich in den Gästebüchern gelesen habe. Da haben sich Wessis in niedrigster Stammtischmanier ausgelassen. Forderungen nach Wiederaufbau der Mauer waren noch das Geringste. Was geht in solchen Leuten vor? Waren die überhaupt schon mal auf der anderen Seite der ehemaligen Grenze?
Nur noch ein Museumstück
Ich klappe mein Visier zu und rolle zurück nach Allendorf. Das ist eine hübsche kleine Fachwerkstadt, mit zahlreichen kleinen Gassen.
Ich halte mich allerdings nicht lange auf, sondern komme nach Bad Sooden hinein. Ich biege einfach mal so ab und stehe unvermittelt vor der Klinik, in der meine Mutter gewesen war. Die Sonnenbergklinik sieht noch genau so aus wie damals. Auf einmal ist es alles wieder da. Ich schlucke. Etwas zittrig manövriere ich Gesa wieder aus dem Klinikviertel hinaus und am Besten gleich ganz aus der Stadt. Auf einem Parkplatz an der Bundesstraße mache ich Halt. Ich brauche ein kleines Weilchen, bis ich wieder weiterfahren kann. Das hat mich recht tief berührt. Ich tippe eine kurze Nachricht an Tom, der sich freut, wieder von mir zu hören, denn ich war seit gestern Abend ja verschwunden von der Landkarte, und kann schließlich nach ein paar Minuten weiterfahren.
Die Bundesstraße ist etwas eintönig, immer wieder LKW vor mir, dafür entschädigt aber der Ausblick in die schöne Landschaft. Auch wenn es ein wenig nach Regen aussieht und nicht wirklich warm ist. Die Fahrt wird kurz hinter Eschwege, in einem Stück wo es eine Geschwindigkeitsbegrenzung gibt, kurz durch ein kleines Kästchen am Straßenrand aufgelockert. Mir war das etwa Zigarettenschachtelgroße, flache graue Dings schon aufgefallen, als es plötzlich drei Autos vor mir kurz und scharf einen roten Blitz absondert. Ei schau, eine Radarfalle! Mir kann sie nichts anhaben, aber die Größe des Kästchens ist beeindruckend. Das hat nichts mehr mit den Mikrowellenherdgroßen Kästen zu tun, die man sonst kennt.
Nach ein paar Kilometern komme ich durch Bebra, eine Stadt, die kaum mehr etwas zu bieten hat. Früher verebbten kurz vor Bebra im Zugabteil die Gespräche, die Leute, die in die DDR wollten, mussten hier umsteigen. Heute bin ich rasch mit meinem Motorrad hindurchgefahren, ohne einen sonderlichen Eindruck zu erhalten.
Ich folge jetzt der Fulda bis Bad Hersfeld. Hier werde ich kunstvoll um die Altstadt herumgeleitet und verlasse die Bundesstraße. Ich schlängele mich bald durch Wald und komme an die A7 heran. Bei Reckerode unterquere ich zunächst die Schnellbahntrasse und dann die Autobahn und steuere auf Kirchheim zu. Dort zweigt die A4 in Richtung Osten ab. Auf der A7 kam mir mal vor Jahren auf der Steigung hier im dichten Verkehr rückwärts ein Pole entgegengerollt. Hier hätte schon mal alles Aus sein können. Heute verläuft es wesentlich besser für mich und ich biege von Kirchheim auf die B454 ab. Ich komme zwischen Wiesen und Feldern durch Oberaula und biege in Neukirchen links ab. Die Straßen, die ich mir rausgesucht habe, werden immer kleiner.
Der Landmann auf der Scholle...
Der sonstige Verkehr ist auch in der Zwischenzeit stark abgeebt und so kann ich recht froh dahindüsen. Irgendwo im Nirgendwo ist mein einziger Gegner eine Umleitung.
Aber auch die kann mir nicht viel anhaben, fahre ich eben dort entlang. Immer wieder Wald und nette Kurven, dazu fast keine Autos an diesem Montagnachmittag, was will man mehr? Ich wüßte da was. Es fährt schon seit einiger Zeit so ein Gefühl mit, daß ich langsam einen Kaffee gebrauchen könnte. In Homberg / Ohm biege ich also in die Altstadt ab. Da ist eine Bäckerei, die ganz vernünftig aussieht und die auch ein paar Tische und Stühle hat. Ich stelle Gesa auf einen freien Parkplatz und stapfe zur Bäckerei zurück. Mich lacht ein Stück Kuchen an und ich bestelle mir einen netten Latte M. Als ich mit beidem fertig bin, wäre ein Klo nicht falsch, aber das haben sie leider nicht im Angebot. Die Frau hinter der Theke verrät mir aber, daß es beim Rathaus eins gibt. Also laufe ich eben dort noch hin. Auf dem Weg mache ich ein paar Bilder.
Als ich von Homberg wieder losfahre, hat der Feierabendverkehr endgültig eingesetzt. Hier ist ohnehin immer viel los, wenn auf der Autobahn mal wieder Stau ist, Homberg / Ohm kennt man eigentlich nur aus dem Verkehrsfunk (wie Hannoversch - Münden Lutterberg, Würzburg Kist und Wunstorf Kohlenfeld).
In Grünberg verfahre ich mich kurz, merke meinen Fehler aber sofort und kann umdrehen. In Lich nutze ich die Gunst der Stunde zum Tanken. Ein unheimlich lautes Auto macht wieder mal auf sich aufmerksam. Es ist wieder mal ein NSU TT.
Bald drauf komme ich schon nach Butzbach. Dort habe ich das Gefühl, daß die Schilder nicht ganz zur Realität passen, finde aber dennoch meinen Weg, der mich weiter führt. Eigentlich sind das hier schon langsam wieder bekanntere Gefilde.
In Brandoberdorf biege ich ab in Richtung Grävenwiesbach. Ich zackere mich durch den Taunus. Kurz vor Bad Camberg überhole ich einen Schleicher, der mit nur knapp fünfzig auf der Straße herumeiert. Der wird jetzt auch sicher zu Hause was von den Motorradrasern erzählen. Bald drauf bin ich in Idstein, ein Stück weit werde ich von einer älteren weißen BMW begleitet, und biege in Niedernhausen ab nach Wiesbaden. Das ist nun schon Teil meiner Hausrunde. Über Erbenheim komme ich nach Kastel und fahre relativ flüssig über die Theodor Heuss Brücke. Eigentlich fast ein Wunder um die Uhrzeit. Auch der Weg durch Mainz geht recht flüssig und es dauert nicht lange, dann tickt Gesa nach den 342km heute auch schon wieder in ihrer eigenen Garage. Das Gepäck rasch abgeschnallt und dann die Taschen rübergebracht. Alles erst mal hinfallen lassen und die Fenster aufgerissen.
Wie ich später am Abend dann mit dem Auto in die Stadt fahre, um mich mit Tom und Martina zu treffen, ist das Auto total ungewohnt. Dieses kleine dicke Lenkrad... Ich muss mich erst einmal daran gewöhnen.
Als wir dann im Pomp am Neubrunnenplatz ankommen, wirft zur Feier des Tages eine der Bedienungen das Körbchen mit der Ketchupflasche und der Senftube zu Boden. Die Ketchupflasche ist mit lautem Knall in tausend Stücke. Wenn das kein Empfang ist?



Was für eine tolle Reise! In den zwei Wochen, die ich unterwegs war, bin ich runde 3.000 km mit dem Motorrad gefahren. Der ganze Spaß hat mich roundabout 800,- € gekostet, inklusive Tanken, Schlafen, Eintritt und Essen. Das ist eigentlich nicht zu viel, wenn man bedenkt, was ich alles erlebt habe, was ich alles für tolle Leute kennengelernt habe, sei es Mrs. Tamron in Potsdam, Svenja in Kiel, Heike in der Nähe von Braunschweig, oder was ich für tolle Leute wiedergetroffen habe. Meine Brieffreundin aus Kindertagen, ein paar wirklich liebe Verwandte bei Hamburg und in der Heide und die liebe Anna, die in ihrer eigentlichen Heimat Peine nun Heimweh nach Mainz hat. Und dann noch die ganzen Bekanntschaften am Wegesrand. Unbezahlbar! Ich danke Euch allen für diese wunderare Reise!

8 Kommentare:

  1. Eine wunderbare Lesereihe, Dein Bericht über Vergangenges, Gegenwärtiges und die ganzen Annekdoten nebenbei. Ich habe viele Impulse bekommen beim Lesen, und ich werde einiges mit Ellie auch bereisen. Danke, dass Du uns mitgenommen hast zu diesem Urlaub, der ja eigentlich mehr war als nur Herumtouren.
    Ich habe mich auch gefreut, Dich persönlich zu treffen und wer weiß, was uns die neue Saison bringt. Mit einigen Pausen in Deine Region zu fahren, könnte ich mir sehr gut vorstellen!

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    1. Dankeschön! Ich bin schon gespannt darauf zu lesen und zu sehen, wie Du die Gegenden dann erlebst! Schließlich sieht es jeder ja mit seinen eigenen Augen.
      Was mir wieder einmal aufgefallen ist, in was für einem herrlich schönen Land wir hier wohnen. Es gibt so viele tolle Ecken, die noch der Entdeckung harren und die man bereisen müsste.
      Hier herunter kannst Du Dir eine schöne Route zusammenstellen, mit Strecken, die nicht zu lang sind, das kann eine schöne Rundreise werden, die nicht anstrengend zu sein braucht. Ich würde mich auf jeden Fall freuen!

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  2. und Idstein lag sogar auch noch auf Deinem Weg :-)

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    1. Allerdings! Wenn nicht Gesa schon den Stall gerochen hätte und weitergestürmt wäre, dann hätten wir sogar dort noch mal angehalten. :)

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  3. Tolle Reise, tolle Geschichten, tolle Bilder! Danke, dass ich dabei sein durfte! Auf einem Bild sieht ein Baum wie ein Hahn aus! ;-)

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    1. Danke, aber gerne doch! Und ich hoffe, Du bist beim nächsten Mal wieder mit dabei! :)

      Den Hahenbaum habe ich auch gesehen! :))

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  4. Eine schöne Reise mit tollen Eindrücken.

    Gerade habe ich gedacht, dass, wenn du schon Anfang der 80er Jahre mit dem Motorrad unterwegs gewesen wärest, sich unsere Wege vermutlich auf unseren jeweiligen Hausrunden gekreuzt hätten :-)

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    1. Dankeschön!
      Anfang der 80er Jahre hatte ich allerdings noch nicht im Traum daran gedacht, daß ich einmal mit einem eigenen Motorrad in der Gegend herumsausen könnte... Aber wenn, dann wären wir uns vielleicht ja da schon irgendwo über den Weg gebiked. Wobei Hausrunde bei der Strecke bei mir etwas weit gegriffen ist... :)

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